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Der Gespaltene Fels

Das muss ein schöner Anblick gewesen sein, als sich in unserem Tal, noch ganz urwüchsig, im blühenden Mittelalter auf felsigen und baumgekrönten Anhöhen die finsteren, mit Zinnen gekrönten Burgen der fremden Fürsten sehen liessen. Einer dieser Fürsten dachte sich, als er den Reichtum der Wiesen und Wälder gesehen hatte, dass sich daraus, wenn man es richtig anstellte, reichen Profit ziehen liesse. Also entsandte er einen blutrünstigen und grausamen Zwingherrn in das Tal mit dem Auftrag, zu plündern, was es an Schönem und Wertvollem zu plündern gäbe. Dieser Zwingherr war ein Menschenschinder, dem es Spass bereitete, sich armen Leuten gegenüber grausam zu zeigen. Er liess sich mit einer ganzen Schar anderer Übeltäter in der furchtbaren Burg von Pedenale nieder und von diesem Stützpunkt aus zog er Tag und Nacht aus, um Raubzüge und Untaten zu vollbringen, so dass er bald zum Schrecken des Tals wurde.

Wenn auf den Feldern die Getreidebündel bereit standen, die mit viel Mühe zusammengebunden wurden, und auf den Wiesen die Maden von gut getrocknetem, duftendem Heu bereit waren, dann kam der stolze Junker mit seinen Pferden und Wagen daher, um alles abzutransportieren, und lachte dabei den verdutzten Bauern höhnisch ins Gesicht: «Nichtsnutze, geboren um im Schweisse eures Angesichts den Pflug zu ziehen und Hunger zu leiden, ich will euch zeigen, ob ich zurecht euer Herr genannt werde!» Und falls ein schönes Tier zugegen war, nahm er es für seinen Stall und starke und schöne junge Männer machte er zu seinen Sklaven. So genoss er das Leben geschützt in seiner Burg zusammen mit seinem Gefolge, das für seinen Gehorsam stattlich entlohnt wurde, währende die armen Leute draussen vor Hunger und Anstrengung starben. Und wenn sie mit dem Leben davon kommen wollten, mussten sie alles erdulden und schweigen und ja nicht vergessen, sich vor dem Zwingherrn zu verneigen, wenn sie ihn bei seinen Streifzügen antrafen, hoch zu Ross auf den Wiesen, auf den Feldern und in den Wäldern der näheren Umgebung.

Alle wünschten ihm, dass der Teufel ihn holen und mit sich in die Hölle tragen möge. Am meisten erzürnt war ein guter Mann, der in Prada lebte, dem Dörfchen, das am nächsten bei der Burg lag und aus wenigen Behausungen bestand, die das kleine Strässchen säumten, welches den Weiler von den Wiesen her kommend durchquerte und von Haustür zu Haustür hin und her zuckte, gerade

so als wolle es schnell wieder die offenen Weiden („praderie“) erreichen, die dem Dörfchen seinen Namen gaben.

Der gute Mann, der Frau und Kinder hatte und das harte Leben der Bauern gut kannte, erfreute sich eines gewissen Wohlstands und war sehr wohltätig und barmherzig. Daher konnte er die Grausamkeit des Tyrannen nicht ertragen und er beklagte er sich mehr als alle anderen.

Der Burgherr fürchtete, dass diese Klagen dazu führten, dass sich auch die übrigen Untertanen gegen ihn erheben würden, und so wollte er dem guten Mann eine Lektion erteilen. Dazu verlegte er sich auf seine gewohnte Masche: Er wartete, bis im August die Wiesen und Felder des armen Mannes voll von Leuten waren, die Heu machten und Korn ernteten, und schickte dann seine bewaffneten Spiessgesellen. Im Handumdrehen schleppten diese die ganze Ernte mit sich und bezahlten mit Faustschlägen und Hohngelächter. Aber der arme Mann war nicht nur mild und barmherzig mit den Armen, sondern auch sehr mutig und stark und Ungerechtigkeiten liessen sein Gemüt aufwallen und machten ihn rachsüchtigerst recht in diesem Fall, wo es ja um sein eigen Hab und Gut ging! Ohne an die Folgen seines Tuns zu denken, griff er nach einer Heugabel und die ersten drei oder vier Schurken, die er zu fassen bekam, bezahlten ihre letzte Übeltat teuer. Denn es sollte tatsächlich ihre letzte sein!

Aber zunächst musste der Unglückswurm für seinen Wagemut büssen. Er wurde entwaffnet und zur Burg geführt, wo sich der Junker schwer erzürnte, als er hörte, zu welchen Taten sich der gute Mann durch seinen Mut hinreissen hatte lassen. Er hätte ihn sicher gleich aufknüpfen lassen, hätte ihm nicht der Teufel nicht eine noch grössere Grausamkeit eingeflüstert: So vergnügte er sich, dem guten Mann die Augen mit einem glühenden Eisen ausbrennen und die Finger abschlagen zu lassen. Dann liess er ihn von den Schergen nach Hause bringen, wo er – blind und verstümmelt – zusammen mit Frau und Kindern bitterlich weinte. Aber bevor die Schergen zur Burg zurückkehrten, beraubten diese furchtbaren Unmenschen das Haus und den Stall des Wenigen, das übrig geblieben war und – durch den Raub allein noch nicht befriedigt – steckten alles in Brand.

Doch nun war es Zeit für die Strafe Gottes. Der arme, blinde Mann war genug gestraft für sein Aufbegehren, das leicht entschuldbar, ja sogar lobenswert war für einen Mann mit einem so edlen Herzen. Er zog, begleitet von einem seiner Kinder, von Tür zu Tür und bat diejenigen um Barmherzigkeit, denen er selber früher Al

mosen gegeben hatte. Der grauenvolle Anblick, den er nun bot mit den leeren Augenhöhlen und den blutigen Handstümpfen war ein Schrei nach Rache gegen den Tyrannen, der viel heftiger und überzeugender zur Revolte aufrief als seine früheren Klagen. Aber der Burgherr lebte weiter in Freuden mit seinen Raubvögeln, wie wenn nichts gewesen wäre. Eines Tages war er sorglos auf der Jagd in den Wäldern bei den Maiensässen von Selva, eine sanfte Hochebene auf halber Höhe mit schönen Wiesen, wo der arme Mann, den er ins Elend gestürzt hatte, noch eine Hütte und ein paar Flecken Land besass.

Die Strasse, auf der man von Norden her auf die Hochebene gelangte, führte an einem grossen Felsen vorbei, der aus dem Boden ragte, und ganz allein, nackt und finster im satten Grün der Wissen stand. Er hiess und heisst heute noch Fels von Macon.

Ein Gewitter war im Anzug und der Zwingherr trieb sein Pferd an, um möglichst schnell zu einem der Maiensässe zu gelangen, wo er mit seiner üblichen Überheblichkeit Obdach verlangen wollte. Als er in die Nähe des Felsen kam, der bei dem heranziehenden Gewitter unter dem bewölkten Himmel noch schwärzer wirkte, bäumte sich sein Pferd unvermittelt auf: An den Felsen gelehnt sass eine Frau, die ein Kind im Schoss trug. Als die arme Frau den Zwingherrn sah, erhob sie sich voller Angst, sie zeigte ihm das weinende Neugeborene und strecke die Hand aus, um Almosen zu bitten.

Der Ritter fragte sie, wer sie sei.

«Ich bin die Frau des Mannes, den ihr geblendet habt. Ihr habt uns das Brot aus dem Mund genommen, Herr! Wir sterben Hungers. Seid wenigstens einmal barmherzig. Gott wird euch verzeihen.» Der Zwingherr schaute auf seinen geschmückten Gurt, an dem sein prallvoller Geldbeutel hing. Dann schaute er zum Himmel, brach in Gelächter aus, und trieb sein Pferd an, den Lauf wieder aufzunehmen. Aber die Frau versperrte den engen Weg und das Pferd stampfte ungeduldig. Der Tyrann fluchte: «Aus dem Weg, Elende!»

Die arme Frau, ausser sich vor Zorn und Hunger, streckte dem Tyrann das weinende Kind entgegen und rief: «Wenn ihr uns schon nicht helfen wollt und uns denjenigen genommen habt, der uns unser Brot gab, so nehmt wenigstens dieses unschuldige Kind und ernährt es.»

Der furchtbare Ritter beugte sich zu der Frau herunter, packte das Kind an einem Fuss, schwang es durch die Luft wie einen Lumpen und schleuderte es voller Zorn gegen den Felsen. Der kleine Körper zerschellte am Stein, während sich das Pferd wiehernd aufrichtete, ohne auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Unvermittelt, begleitet von den Schreien der verzweifelten Frau und dem Grollen der ersten Donner am dunkeln Himmel, brach es zum Felsen hin aus und sprang auf seine Spitze. In gleichen Augenblick schlug ein Blitz ein mit ohrenbetäubendem Lärm wie von einem ganzen Bergsturz und spaltete den Felsen in der Mitte. Pferd und Reiter wurden von dem fürchterlichen Schlund verschluckt, den Gottes Zorn geöffnet hatte.

Unten im Tal inmitten des gewaltigen Gewitters griffen die Talbewohner, die sich gegen den Tyrannen erhoben hatten, die Burg an, plünderten sie und brannten sie auf die Grundmauern nieder. So endete die Tyrannei des Zwingherrn von Pedenale. Von seiner Burg bleiben nur wenige Trümmer und der Name des fruchtbaren Hügels, auf dem sie einst gestanden hatte, erhaben zwischen den urwüchsigen Bäumen, die sie mit ihrem Grün umgaben, aber verflucht von den armen Leuten, die ihren Herrn hassten. Von ihm bleibt die schreckliche Erinnerung und – neben dem schmalen Weg, der vom Talboden zu den schönen Wiesen in Selva führt – der gespaltene Fels, der ihn verschlungen hatte. Aus den Spalten wachsen ein paar Grasbüschel und kleine Büsche hervor, die noch die Brandspuren des Blitzschlags zeigen,

Und in der Nacht, wenn der Sturm von den Bergkämmen herab bläst, sieht man im Glanz der Blitze den Schatten eines Mannes zu Pferde, der aus dem Felsen heraus springt und fluchend wieder in den Schlund zurück stürzt.

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